
Mit dem Jahr 1990 verbinde ich persönlich sehr viel. Vor 35 Jahren wurde Deutschland wiedervereint. Die Friedliche Revolution mutiger Menschen in der DDR hat Mauern und Stacheldraht überwunden und den Weg zu einem gemeinsamen Land geebnet.
Ein paar Monate vor dem damaligen 3. Oktober – im Mai 1990 – bin ich auf die Welt gekommen. In einem Land, das zu dem Zeitpunkt noch Sowjetunion hieß. Seit 1996 lebe ich in Deutschland – in Frieden, Freiheit und Demokratie. Dafür bin ich dankbar. Aber selbstverständlich ist das nicht.
Selten zuvor seit 1990 waren Freiheit und Demokratie so bedroht wie heute – in Deutschland, in Europa, weltweit. Autoritäre Bewegungen arbeiten mit Desinformation, Stimmungsmache und gezielten Angriffen auf den Rechtsstaat. Für viele Menschen mit Migrationsgeschichte bedeuteten die Nachwendejahre zudem nicht nur Aufbruch, sondern auch ein Kontinuum von rassistischer und rechtsextremer Gewalt: Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Solingen, der NSU, München, Halle, Hanau uvm. Diese Wunden sind bis heute nicht verheilt.
Der Aufbruchstimmung von 1990 steht eine zunehmende Polarisierung und Unversöhnlichkeit gegenüber. Gerade deshalb dürfen wir nicht wegsehen. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit, gleiche Chancen auf Bildung und Aufstieg und eine solidarische Gesellschaft. Polarisierung und Spaltung dürfen nicht die Oberhand gewinnen.
35 Jahre sind in der Menschheitsgeschichte kein langer Zeitraum. Demokratie und Freiheit bleiben verletzlich – und sie müssen jeden Tag neu verteidigt und mit Leben gefüllt werden. Es liegt an uns, den Mut aufzubringen, Mauern einzureißen statt neue zu errichten, Ungleichheiten zu beseitigen statt sie zu vertiefen.